Die lange Stunde des Rechtsextremismus
Was kann Kunst dem wachsenden Rechtsextremismus entgegensetzen? Zwei Werke aus Ostdeutschland erzählen von Radikalisierung und was danach kommt.
Es ist kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen. Es ist Sommer 2024, und ich lese Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel, während der Regionalexpress durch vertrocknete Felder und verlassene Bahnhöfe fährt. Das Buch schildert, wie die Brüder Philipp und Tobias im ländlichen Ostsachsen aufwachsen. Es beschreibt den Zeitraum von 2000 bis 2015, erzählt, wie die Eltern sich trennen, ein Haus gebaut und leere Fabrikgebäude gesprengt werden. Und es erzählt, wie die beiden sich immer weiter radikalisieren und Teil einer rechtsextremen Freundesgruppe werden.
Die AfD wird bei den Landtagswahlen knapp zweitstärkste Kraft, sechs Monate später bei den Bundestagswahlen wird sie ihr Ergebnis sogar noch steigern. In fast allen Landkreisen im Osten gewinnt sie das Direktmandat. Mit der Faust in die Welt schlagen skizziert das Leben inmitten eines dieser Landkreise. Es liest sich als das Buch der Stunde. Eine Stunde, die schon seit seiner Veröffentlichung 2019 andauert, sagt der Autor Lukas Rietzschel im Interview mit MDR Kultur. In wenigen Tagen, am 3. April, erscheint die Verfilmung des Buches von Constanze Klaue.
Jetzt, einen Monat nach den Bundestagswahlen, wird dabei eine Frage immer drängender: Welche Verantwortung tragen Kunst und Kultur in Zeiten des erstarkenden Rechtsextremismus? Was können insbesondere ostdeutsche Künstler*innen beitragen?
Rechter Realitätscheck
Es ist bemerkenswert: In Interviews mit Lukas Rietzschel drehen sich die ersten Fragen immer um die politische Gegenwart. So, als könnte Rietzschel erklären, wie es dazu kommen konnte, dass die AfD in ganz Deutschland, aber insbesondere im Osten, so beliebt ist.
Lukas Rietzschel ist dafür außergewöhnlich gut geeignet. Denn er selbst wurde 1994 in der Oberlausitz geboren, zog dann zum Studium der Politikwissenschaft nach Kassel, lebt heute in Görlitz und ist Mitglied der SPD. Für sein Stück Das beispielhafte Leben des Samuel W. interviewte er 100 Menschen aus der Lausitz. Davon ausgehend rekonstruierte er das Leben eines fiktiven Politikers Samuel W., der einige an den Görlitzer AfD-Politiker Sebastian Wippel erinnert. Nun ist das Stück sogar zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.
Denn Lukas Rietzschel ist eben vor allem ein talentierter Autor. In seiner Kunst beschreibt er die Gegenwart, ohne dabei moralisch oder lehrhaft zu klingen. Sein Ton ist nah dran. Die krümeligen Betten, auf denen die Jungen zocken, die picklige Haut und der Geruch nach Bier und Schweiß im Bungalow bröckeln aus den Zeilen des Romans Mit der Faust in die Welt schlagen. Seine ostdeutsche Coming-of-Age-Geschichte ist so besonders, weil sie das Politische nicht ausklammert, Alltagsrassismus nicht beschönigt und moralische Unsicherheiten zulässt.
Im Interview sagt Rietzschel, er wolle einfach nur eine Geschichte erzählen. Nicht Politik erklären, sondern die Ambivalenzen aushalten.
Kunst gegen Rechts?
Mit seinem Roman zeigt Lukas Rietzschel, welche Rolle Kunst in Zeiten des Rechtsruck spielen kann. Als kritische Beobachterin der Gegenwart können künstlerische Werke ein besseres Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungen anregen. Sie helfen ein Vokabular zu finden für die Komplexität der multiplen Krisen und helfen vorschnelle Annahmen aufzulösen.
Mit der Faust in die Welt schlagen, zeigt aber auch, wie ein Aufwachsen ohne kulturelle Vielfalt aussieht. Rechte Ideologien verfangen, auch weil es an attraktiven Alternativen fehlt. Umso wichtiger, sind offene Strukturen zur demokratischen Auseinandersetzung.
Die Broschüre Perspektive Ost hat knapp dreißig solche Orte besucht – von Limbach-Oberfrohna, Zeitz und Grimma bis nach Chemnitz und Potsdam. Klar wird: Räume, in denen Menschen kreativ und sicher zusammenkommen können, sind bedroht, aber es gibt sie. Sie sind Orte, an denen Kunst konkret wird. Auch auf sie wird es in den nächsten Jahren ankommen.
Diese Orte können Vorbilder sein – für die offenen Türen mit Sicherheitsschlössern, die es braucht, um Zuflucht und Begegnungsraum zu sein. Sie können Keimzellen werden für eine solidarischere Zukunft.
Und jetzt?
Ich sitze wieder im Regionalexpress, es wird Frühling, erste Blüten an den Bäumen. Ich denke an das Theaterstück Die ersten 100 Tage von Lars Werner. Darin zeigt sich, was passieren kann, wenn eine rechtsextreme Regierung die Macht übernimmt. Im Stück treffen sich an einer Shell-Tankstelle vier ehemalige Studienfreund*innen. Das Leben der vier hat sich seit der Machtübernahme auf ganz unterschiedliche Weise verändert. Während die einen als migrantisierte Menschen in konkreter Gefahr leben oder als Gender-Professorin ihren Job verloren haben, arbeitet ein anderer nun als Journalist einer regierungsnahen Zeitung. Das Stück entwirft ein düsteres Bild: Eilmeldungen überschlagen sich, und Radikales normalisiert sich in Höchstgeschwindigkeit. Das stellt auch zwischenmenschliche Beziehungen auf die Probe und zeigt was auf dem Spiel steht.
Seit dem 7. März läuft Die ersten hundert Tage unter der Regie von Ebru Tartıcı Borchers im Schauspiel Göttingen.
Bis bald,
Frida
Die Broschüre Perspektive Ost lässt sich online bestellen oder an verschiedenen Orten in Leipzig direkt erwerben. Einige Initiativen werden auch auf Instagram vorgestellt.
Auch Arne Semsrott skizziert in seinem Buch Machtübernahme: Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren | Eine Anleitung zum Widerstand, was gegen rechtsextreme Politik zu tun wäre.
Seit 2009 dokumentiert chronik.LE Diskriminierung und rechte Strukturen in der Region Leipzig. Der neue Lagebericht Leipziger Zustände ist seit einigen Wochen kostenlos erhältlich.
Wie cool! Wir freuen uns sehr für deine Erwähnung. Schaut gern bei uns vorbei, wir gehen dieses Jahr auf Tour, um darüber zu sprechen wie man solchen Perspektiven begegnen kann und was "der Weste" eigentlich noch "vom Osten" lernen sollte.
Wir freuen uns drauf!