Raus aus der Blase
Junge Leipziger Kunst beim Rundgang der Hochschule für Grafik und Buchkunst sucht den Dialog
„Wenn du die Redefreiheit liebst, aber anderen Meinungen nicht zuhörst, dann ist, was du liebst, nur das Echo deiner Meinung in deiner Blase,“ steht auf einem Banner im Innenhof der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB)1. Jährlich im Februar findet hier der Rundgang statt, bei dem die rund 600 Studierenden ihre Werke präsentieren – so auch vergangenes Wochenende. Zwischen Mateflaschen und Leinwänden lassen sich hier Impulse der jungen Leipziger Kunstszene einsammeln. Dieser Newsletter teilt Einblicke.
Neue Leipziger Schule trifft auf junge Kunst
Die HGB ist auch deshalb so interessant, weil sie auf über 260 Jahren Geschichte in ganz unterschiedlichen politischen Systemen zurückblickt – sogar Goethe nahm hier schon Zeichenunterricht. Der Hochschule entstammen die Maler*innen der Leipziger Schule der 1970/80er, darunter Wolfgang Mattheuer und Arno Rink. Ebenso ist sie Wiege zeitgenössischer Künstler*innen wie Neo Rauch und David Schnell. Diese werden oft als Neue Leipziger Schule bezeichnet. Sie sorgte für einen internationalen Hype um Leipzigs Kunstszene und insbesondere die Galerien der Spinnerei in den 2010er Jahren. Während Kunstwissenschaftler*innen noch immer debattieren, was die Künstler*innen der Neuen Leipziger Schule denn nun verbindet - werden in den Klassenräumen der HGB andere Themen verhandelt. Und wer weiß, vielleicht begründen die Studierenden so irgendwann eine ganz neue Leipziger Schule?
Bilder wie leere Bierflaschen in Waschbecken
Eine der Malereiklasse, geleitet von Ivana de Vivanco, präsentiert ihre Werke diesmal in einem rosa Raum. Es riecht nach frischer Farbe. Mein Blick bleibt an dem Ölgemälde „Kling Klang Klick Klack“ von Kyuhyun Kim hängen. Wie eine Collage verbindet es ein Spielbrett, einen Esstisch und zufällige Notizen mit Kreppband auf der Leinwand. Das Werk fasziniert mich, weil es Momente der Gemeinschaft einfängt und gleichzeitig den Malprozess selbst sichtbar macht. Es fügt sich dabei wunderbar ein in die provisorische Gesamtstimmung. In den Waschbecken lagern leere Bierflaschen und Blumen, auf den Gängen ausrangierte Sofas und Holzplatten. Es ist für mich ein besonderes Merkmal, das der Rundgang die Arbeitsweise nicht zu vertuschen sucht. Das Ensemble aus Werk und Raum stellt klar: Hier wird gearbeitet, gelebt und gefeiert, denn diese Kunst ist von Menschen geschaffen.
Blick in den Alltag
Um Orte, an denen das Leben wirklich stattfindet, geht es auch zwei Etagen in der Klasse für Fotografie und Bewegtbild unter der Leitung der ostdeutschen Fotografin Tina Bara. Ihre Ausstellung steht unter dem Titel „A place called home“. Hier werden alltägliche Momente untersucht und in politische Kontexte eingebettet. Die Arbeit von haru li wdo, „stories from home“, besteht aus Videos von haru li wdos Mutter. Sie zeigen, wie der Alltag in Russland, aus dem haru geflohen ist, einfach weitergeht – verwackelte Aufnahmen grüner Wiesen als stille Liebesgesten ins Exil. In Mascha Breuers Werk fixiert mich hingegen der Blick von vier Frauen. Das Bild ist auf ein Kissen gedruckt und verwebt Materialität und Motiv. Die vier Blicke sprechen von Herkunft und Zusammenhalt.
Kollektiv statt Einzelkunstwerk
Ein anderes Konzept verfolgt die Klasse für Fotografie im Feld der zeitgenössischen Kunst von Anna Ehrenstein mit ihrem Raum. Unter dem Motto „re:boot : synthetic eden“ öffnet sie diesen für Musik, Performances und Lesungen über den Klassenkontext hinaus. Zwischen Kunstrasen und Raumbefeuchtern zeigt eine Videoinstallation Naturaufnahmen und Reflexionen in Schnörkelschrift. In diesem Lavendel-duftenden Raum können Besuchende auf Sitzkissen verweilen. Die temporäre Gemeinschaft steht dabei im Kontrast zur individuellen Vermarktung einzelner Werke.
Gemeinschaft des Zuhörens
Falls es ein verbindendes Element des Rundgangs gibt, dann die Frage, wie wir als Gesellschaft miteinander im Austausch bleiben und welche Räume es dafür braucht. Dabei werden sowohl die politischen als auch persönlichen Dimensionen dieser Frage ausgelotet.
Ein Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm „Upload DDR“ von Merlin Rainer. Der Film gibt Einblick in die HardTekk-Szene, eine in Ostdeutschland verbreitete elektronische Musikrichtung. In Schwarz-Weiß-Illustrationen begleitet er den HardTekk-Fan Jill durch eine Welt zwischen Ostalgie, Deutschlandflaggen und Internetforen. Ohne Vorurteile oder Simplifizierungen erkundet das Werk diesen Mikrokosmos.
Merlin Rainer zeigt, wie Zuhören über die eigene Blase hinaus funktionieren kann und gehört damit zu den Preisträger*innen des diesjährigen Studienpreises. So wie viele Werke des Rundgangs präsentiert der Film keine Held*innengeschichten oder frische Spekulationsobjekte für den Kunstmarkt, sondern rückt Alltägliches in den Fokus. Die Bemühung, dem Echoraum Kunstuni zu entfliehen, wird dabei immer wieder deutlich.
Ein Symbol dafür sind auch die improvisierten Bars in den Gängen — sie werden zum Treffpunkt auf Zeit. Die Einnahmen aus Mate und Bier unterstützen dabei je nach Bar nicht nur die Klassenkasse, sondern auch verschiedene politische Initiativen. Ob so der Appell, auch Meinungen außerhalb der eigenen Blase zuzuhören, in die Praxis umgesetzt werden kann, bleibt für mich offen. Doch der Rundgang kann als Versuch gewertet werden, sich nicht dem Eskapismus hinzugeben. Stattdessen zeigt er, wie auch die unbequeme und nicht so fotogene Realität zum Motiv zeitgenössischer Kunst wird.
Bezüglich des Morgens
Und weil dieser Newsletter ausnahmsweise an einem Samstag erscheint – da morgen Abend andere Ereignisse im Fokus stehen werden – möchte ich mit einem Werk von Paula Bierenthal enden. Auf A0 zeigt sie in erdfarbenen Illustrationen Menschen, die sich halten, massieren, dehnen. Ihr Werk fragt: „How do you hold space for grief? - How do you practice care?“
Bis bald, Frida
PS: Alle Accounts der Künstlerinnen sind verlinkt – dort gibt es noch mehr spannende Arbeiten.(Die auf den Fotos abgebildeten Werke gehören natürlich den Künstler*innen.)

Clara Mosch is back! Zumindest widmen dem Kunstkollektiv aus Ausgabe zwei die Chemnitzer Kunstsammlungen eine neue Ausstellung in der Kulturhauptstadt.